Kain und Abel
Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis 2021 zu 1. Mose 4, 1-16
Ein Krimi für den Sonntagmorgen
Manche ist unter uns sehen gerne den sonntäglichen Tatort-Krimi. Aber der ist erst heute Abend dran. Heute Morgen haben wir aber das Thema dieses Sonntags im Kirchenjahr: die Nächstenliebe. Ein Krimi handelt von einem Verbrechen. Auch ohne die Bibel aufzuschlagen, kann man dies für das Gegenteil von Nächstenliebe halten. Da scheint sich eher das Liebesdrama anzubieten, das das Zweite am Abend im Programm hat: Inga Lindström „Wilde Zeiten“. Aber der ausgerechnet für den heutigen Sonntag vorgesehene Bibeltext beginnt folgendermaßen:
Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Kain und Abel – da ahnen die meisten bereits: Mit einer romantischen Liebesgeschichte bekommen wir es nicht zu tun. Es geht um ein Verbrechen, ja um den ersten Mord. Wie in so manchen Krimis hören wir zunächst einmal, wie es zur Bluttat kommt:
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
Der Mord und sein Motiv
Eigentlich fängt alles ganz harmlos, fast schon alltäglich an. Die beiden Brüder Abel und Kain bringen vom Ertrag ihrer Arbeit ein Opfer dar. Aber sie tun dies beide getrennt voneinander. Der Hirte Abel opfert von seiner Herde, der Bauer Kain vom Ertrag der Erde. Das gehört für beide auch zu ihrer Arbeit. Wie selbstverständlich verdanken sie dem Ertrag ihrer Arbeit nicht allein ihrer Leistung, sondern Gott als dem Geber.
Nun aber geschieht es, dass Gott das Opfer Abels gnädig ansieht, das Opfer Kains aber nicht. Dem einen wird weiteres Gedeihen und Lebensförderung, dem anderen kein weiteres Gedeihen, sondern Lebensminderung in Aussicht gestellt. Es wird nicht gesagt, warum das so ist. Beide Brüder haben gearbeitet, beide bringen vom Ertrag ihrer Arbeit eine Gabe und beide erkennen damit auch Gott als Geber an. Aber der eine erfährt Segen und Förderung, der andere nicht.
Wir haben es mit einer Lage der Ungleichheit zu tun. Sie ist aber nicht dadurch entstanden, dass der eine faul und der andere fleißig ist, der eine gläubig und der andere ungläubige, der eine gut und der andere böse. Die Ungleichheit ist einfach da und unabänderlich.
Die Frage ist nun, wie Kain mit dieser Situation umgeht. Der zurückgesetzte und benachteiligte Kain gerät in Zorn. In ihm wird es finster. Er verändert sich auch in seiner äußeren Erscheinung, geht mit gesenktem Blick umher.
Nun scheint es nur noch ein kleiner Schritt zu sein, bis der Konflikt eskaliert. Aber Gott interveniert, schreitet ein, um das Schlimmste zu verhindern.
Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Es muss nicht zwangsläufig zum Mord kommen. Kain könnte die Entscheidung Gottes für seinen Bruder und damit die unabänderliche Ungleichheit auch akzeptieren. Er könnte seinem Bruder die Förderung durch Gott vielleicht sogar können und für ihn freuen. Zumindest könnte er Gottes Rat annehmen und sich nicht von seinen negativen Gefühlen beherrschen lassen. Wie ein gefährliches, wildes Tier wird hier die Sünde, das Böse vor Augen geführt. Wie eine bedrohliche Macht, die auf einen Menschen lauert, um ihn zu überwältigen.
Wieder steht die Frage im Raum, ob es Kain gelingt, mit seinem Neid und seinem Zorn verantwortlich umzugehen. Aber das Böse überwältigt ihn dann doch, frisst ihn gewissermaßen auf.
Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Das Verhör und die Überführung des Täters
Anders als in den meisten Krimis muss nicht lange nach dem Mörder gesucht werden. Das Verhör findet gleich nach der Tat statt.
Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Wie oft in einem Krimi leugnet der Täter seine Tat. Kain weiß sich in keiner Weise verantwortlich für seinen Bruder und weist alles von sich. Genau hier deutet sich aber an, was wir unter „Nächstenliebe“ verstehen können: Sie ist die konkrete Übernahme von Verantwortung für andere. Sie ist kein flüchtiges Gefühl, keine Sache von Sympathie und Antipathie. Kain fühlte sich wohl gekränkt und verletzt, war wütend und verbittert. Aber zur bösen Tat kam es erst, als er sich davon beherrschen ließ, statt verantwortlich damit umzugehen. Denn die Verantwortung für das Leben und damit auch das Recht des anderen auf Leben soll immer Vorrang haben.
Kain ist nicht einmal bereit, die Verantwortung für seine Tat und damit seine Schuld zu übernehmen. Wieso wird er dennoch so schnell überführt und als schuldig erkannt? Warum wird sein Verbrechen aufgeklärt und bleibt nicht unentdeckt? Man könnte sagen: Weil in diesem Fall Gott selbst der Kommissar ist und Gott alles sieht. Aber das ist nicht der Grund.
Gott aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.
Das ist der Grund. Das vergossene Blut des Ermordeten schreit zu Gott. Das ausgelöschte Leben der Opfer klagt die Täter vor Gott an. Darum bleibt kein Unrecht vor Gott unerkannt und tritt Gott auch für das Recht aller ein, die um ihr Leben gebracht wurden.
Das Urteil: Der Mörder bleibt am Leben
Darauf folgt das Urteil:
Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Kain muss sich im wahrsten Sinne des Wortes vom Acker machen. Aber er bleibt am Leben. Die Todesstrafe verhängt Gott nicht über den Unrechtstäter. Gott will sein Leben und nicht seinen Tod. Ja, er sorgt sogar dafür, dass der Mörder vor Lynchmord geschützt ist. Obwohl Kain sein Leben verwirkt hat, bleibt er allein durch Gottes Gnade am Leben. Wenn man so will, leben wir alle als Kains Nachkommen von Gottes Gnade und Erbarmen.
Die Frage nach unserer aktuellen Verantwortung
„Bin ich meines Bruders Hüter?“
Diese Frage stellt sich für uns heute noch einmal in neuen Dimension. Bei Kain ging es um seine Verantwortung in der Gegenwart und den mit ihm lebenden Bruder. Wir wissen aber: Unsere Lebensweise, unser Produzieren und Konsumieren, die Art, wie wir wirtschaften und mit der Erde umgehen, wirkt sich auch weit auf die Zukunft aus. Das wird am Klimawandel, an der menschengemachten Erderwärmung deutlich, aber auch am Atommüll, der noch über Tausende von Jahren lebensbedrohend bleibt. Wir sind also auch nach unserer Verantwortung für zukünftige, noch nicht geborenen Generationen und ihrem Lebensrecht gefragt. Nächstenliebe als Verantwortung für das Leben anderer verstanden hat also in unserer Zeit noch viel größere Dimensionen.
Was ist also die Fernsehsendung, die am ehesten zu unserem Thema „Nächstenliebe“ passt? Der Tatort-Krimi oder die Liebesgeschichte? Der biblische Text am heutigen Sonntag hat zunächst zu einer Mordgeschichte geführt. Aber er führt uns dann weiter zu einer anderen Sendung, sobald es darum geht, unsere Verantwortung für das Leben auf der Erde zu erkennen und zu übernehmen: Zu dem, was vorher heute Abend läuft, zur Tagesschau, also zum aktuellen Weltgeschehen, an dem wir teilhaben und für das wir an unserem Ort Mitverantwortung übernehmen. Amen
Pfarrer Hans-Peter Lauer