Die Auferweckung des Lazarus
Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis 2021 in der Kreuzeskirche Marxloh
Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank. Als Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde.
Jesus aber hatte Marta lieb und ihre Schwester und Lazarus. Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war. Danach spricht er zu seinen Jüngern: Lasst uns wieder nach Judäa ziehen! Die Jünger aber sprachen zu ihm: Rabbi, eben noch wollten die Juden dich steinigen, und du willst wieder dorthin ziehen? Jesus antwortete: Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wer bei Tag umhergeht, der stößt sich nicht; denn er sieht das Licht dieser Welt. Wer aber bei Nacht umhergeht, der stößt sich; denn es ist kein Licht in ihm. Das sagte er und danach spricht er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft, aber ich gehe hin, dass ich ihn wecke. Da sprachen seine Jünger: Herr, wenn er schläft, wird’s besser mit ihm. Jesus aber sprach von seinem Tode; sie meinten aber, er rede von der Ruhe des Schlafs. Da sagte ihnen Jesus frei heraus: Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen! Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den Jüngern: Lasst uns mit ihm gehen, dass wir mit ihm sterben!
Da kam Jesus und fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa eine halbe Stunde entfernt. Und viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen. Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.
Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor. Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
Johannes 11
Die Suche nach Unsterblichkeit
Jeff Bezos kennen vielleicht nicht alle hier. Aber der Name seines Unternehmens, das ihn zum mehrfachen Milliardär gemacht hat, dürfte allen bekannt sein: Amazon. Herr Bezos beschränkt sich längst nicht mehr nur auf den Online-Handel, sondern ist inzwischen auch in anderes Geschäftsfeld einstiegen: den Weltraum-Tourismus. Aber nicht nur das! Vor kurzem war zu lesen: „Suche nach ewigem Leben. Milliardäre lassen an Unsterblichkeit forschen“ Ewiges Leben! Unsterblichkeit! Das ist das neueste Ziel dieses superreichen Mannes.
Aber was ist das für ein ewiges Leben, nach dem er sucht? Nach welcher Unsterblichkeit lässt er forschen?
Vielleicht wird uns das klarer, wenn wir uns die Geschichte vor Augen führen, die wir gerade gehört haben.
Die Konfrontation mit dem Tod
Da ist ein Mann namens Lazarus schwer erkrankt. Seine beiden Schwestern senden Boten zu Jesus mit der Nachricht von seiner Erkrankung. Sie hoffen, dass er noch rechtzeitig zu ihnen kommen würde, um Lazarus zu heilen. Aber wie reagiert Jesus? Er lässt sich Zeit. Er bleibt noch zwei Tage an dem Ort, wo er gerade ist. In dieser Zeit stirbt Lazarus. Darauf teilt Jesus seinen Jüngern mit: „Lazarus, unser Freund ist eingeschlafen.“ Erst jetzt will er zu den beiden Schwestern aufbrechen. Die Jünger haben aber Bedenken wegen der feindseligen Haltung der dortigen Leute. Man hatte bereits versucht, Jesus im Jerusalemer Tempel zu steinigen. Doch Jesus ist entschlossen, sich auf den Weg zu machen. Denn jetzt soll es dazu kommen, was er angekündigt, nämlich dass alles um der Herrlichkeit Gottes willen geschieht, damit der Sohn Gottes verherrlicht werde. So sagt er denn zu seinen Jüngern: Ich gehe, damit ich Lazarus vom Schlaf aufwecke. Dadurch soll sichtbar werden, dass der ewige Gott, die Quelle des Lebens, Jesus gesandt hat. Die Jünger verstehen aber mal wieder alles ganz falsch. Sie hören: „Lazarus ist eingeschlafen“ und verstehen, dass Jesus den normalen Schlaf meine. Entsprechend entgegnen sie: „Das ist doch gut, dass er jetzt schläft. Dann erholt er sich.“ Dann ist es auch kontraproduktiv, wenn Jesus ihn wecken will. Dann besteht aber auch kein Grund, jetzt aufzubrechen und sich in eine lebensbedrohende Situation zu begeben. Doch Jesus antwortet ihnen nun klar und deutlich:
„Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht da gewesen bin, auf dass ihr glaubt. Aber lasst uns zu ihm gehen!“
Der Unterschied zu der Unsterblichkeit, von der ich am Anfang sprach, die Unsterblichkeit, nach der heutzutage geforscht wird, tritt hier im ersten Teil der Geschichte schon hervor. Lazarus ist nicht nur ein sterblicher Mensch, er stirbt auch tatsächlich.
Jesus weicht der Konfrontation mit dem Tod nicht aus – jetzt nicht der Konfrontation mit dem Tod des guten Freundes, später auch nicht der Konfrontation mit seinem eigenem Tod. Er sucht die Konfrontation mit dem Tod geradezu.
Die Flucht vor dem Tod
Das ist bereits der Unterschied zu den gegenwärtigen Forschungsprojekten, Unsterblichkeit zu gewinnen. Sie haben zum Ziel, das Leben zu verlängern und den Tod dadurch zu vermeiden. Möglichst nicht mit dem Tod konfrontiert zu werden und möglichst weit weg von ihm zu sein, ist das Bestreben. Ähnlich wie die Jünger, die auch die natürliche Neigung haben, vor einer tödlichen Situation zurückzuschrecken, verbirgt sich hinter diesen neueren Forschungen nichts anderes als die schlichte Angst vor dem Tod. Ständig verjüngt sollen die Körperzellen werden, ständig jung soll dieses Leben bleiben und kein Altern und keine Gebrechlichkeit kennen. Damit setzen sie nur den alten Traum von einem Jungbrunnen fort, von einer Quelle, die ewige Jugend verspricht. Diese Flucht vor Altern und Tod ist menschlich.
Doch ist damit auch klar, was heutzutage oft unter Unsterblichkeit und ewigem Leben verstanden wird. Es geht nicht darum, den Tod endgültig zu überwinden, sondern ihn nur möglichst lange zu vermeiden und sein Eintreten möglichst lange hinauszuschieben. Das ewige Leben ist nichts anderes als das Festhalten dieses Lebens mit Hilfe neuester Technik.
Dabei geht es nicht darum, Menschen von einer Krankheit zu heilen. Auch Jesus heilt Menschen. Bei dieser Suche nach Unsterblichkeit wird aber das Leben wie ein Besitz verstanden, den man für immer in seine Verfügungsgewalt bringen will. Das Leben für immer zu besitzen und kontrollieren zu können, ist der Traum. Das Leben für immer zu verlieren und nicht beherrschen zu können, ist dagegen die entsprechende Angst. Die Angst vor dem unwiederbringlichen Verlust, die Angst, zu verlieren, was man als seinen kostbarsten Besitz betrachtet, treibt diese Suche nach Unsterblichkeit an.
Bekanntermaßen versucht Amazon recht erfolgreich, mit allen Kniffs und Tricks Steuern zu vermeiden. So wie Amazon am Geld festhält, sich daran klammert und sich gegen seinen Verlust wehrt, so möchte man auch am Leben festhalten und mit Geld und Technik gegen seinen Verlust zur Wehr zu setzen. Dabei hofft man, dass durch Geld und Technik auch alles möglich ist. Der Tod wird zu einem technischen Problem, das sich im Laufe der Zeit mit genügend Geld und Technik lösen lässt.
Eine Frage des Vertrauens
Dagegen bekommen wir es im Johannesevangelium mit einem ganz anderen Verständnis von Leben und Tod zu tun. Dies wird besonders an der Stelle deutlich, wo Jesus zu Marta, der Schwester des verstorbenen Lazarus, sagt:
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?
Glaubst du das? Das ist offenbar die entscheidende Frage.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob es gelingt, durch Geld und Wissen, durch Forschen und Spitzentechnologie alle Probleme zu lösen und Unsterblichkeit zu gewinnen. Unsere menschlichen Möglichkeiten spielen keine Rolle, wo es um das ewige Leben geht. Was von unserer Seite allein nötig ist, ist unser Vertrauen.
Aber worauf vertrauen?
Das andere Leben
Doch offenkundig auf das Leben, das uns nur bei diesem Menschen begegnet und wir nur bei ihm finden können, der von sich sagt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben!“
Auf die Reihenfolge kommt es an: zuerst die Auferstehung und dann das Leben. Gemeint ist ein Leben, das den Tod hinter sich hat, ein Leben, das den Tod überwunden hat, ein Leben, das von der Macht des Todes endgültig befreit ist.
Natürlich hat Jesus seinen Tod noch vor sich. Von seinem Sterben am Kreuz wird das Johannesevangelium dann wenige Kapitel später auch erzählen. Es wird aber auch von seiner Auferstehung vom Tode erzählen. Doch schon jetzt ist er mit ewigen Gott verbunden und ihm eins.
Leben, das den Tod überwunden hat, Leben, das den Tod hinter sich hat, Leben, das vom Tod befreit ist, wahrhaft ewiges Leben – das ist nur bei Gott zu finden. Schon jetzt begegnet uns dieses Leben in diesem Menschen Jesus. Das ist wohl der entscheidende Unterschied zu all den menschlichen Versuchen, das eigene Leben zu sichern und es dabei wie unseren Besitz zu betrachten.
Die Lösung besteht gar nicht darin, das eigene Leben unendlich verlängern zu können. Es geht noch nicht einmal um das eigene Leben und um unsere Angst, es zu verlieren. Nicht auf das Leben, das wir haben und über das wir verfügen wollen, kommt es an, sondern auf das Leben, auf das wir nur vertrauen können. Suchen wir das Leben nur in uns, dann finden wir kein ewiges Leben. Suchen es dagegen bei Jesus, den Gott nicht im Tode ließ, dann werden wir fündig.
Über sein Leben vermögen wir nicht zu verfügen. Wir werden es nie in unsere Gewalt bekommen, nie zu unserem Besitz machen können, nie darüber Macht haben. Genauso werden wir nie Herren über den Tod sein noch uns vor ihm endgültig sichern können.
Denn das ewige Leben begegnet uns jenseits unseres eigenen Lebens: In dem Menschen, mit dem sich Gott ganz verbunden hat und den er gesandt hat. Auch sein Leben bleibt ein Leben, das er nicht besitzt, sondern immer nur von Gott empfängt. So wird dann auch die Auferweckung des Lazarus Gottes Tat sein, kein mit Magie oder technischen Mittel betriebenes Unternehmen.
Jenseits der Verlustängste
„Ich bin die Auferstehung und das Leben!“
Jesus ist in Person die Auferstehung und das Leben. Das heißt, es kommt nicht darauf an, das eigene Leben unendlich lange festzuhalten, sondern für immer in seinem anderen Leben festgemacht und bewahrt zu sein.
Damit haben wir alle diese Forschungsprojekte nach Unsterblichkeit gar nicht nötig. Das Geld wäre besser eingesetzt, um von Krankheiten zu heilen oder andere Nöte zu bekämpfen. Für das ewige Leben genügt unser Vertrauen.
Wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.
Getrost können wir daraufhin unser Leben, das den Tod noch vor sich hat, mit all seinen Schwächen und täglichen Sorgen, mit seiner Verwundbarkeit und seiner Gebrechlichkeit leben.
Wer auf den vertraut, der die Auferstehung und das Leben ist, kann sogar tun, wozu sich ein Herr Bezos nicht in der Lage sieht. Er kann sich von seinem Geld trennen und Steuern zahlen. Nicht um das eigene Leben unendlich zu verlängern oder Touristen ins Weltall zu befördern, sondern um damit die alltäglichen Dinge des Lebens zu finanzieren, die allen zugutekommen. Amen
Hans-Peter Lauer