Sein und Schein
Predigt am Tag des offenen Denkmals 2021 in der Kreuzeskirche
„Sein und Schein“ in der Kreuzeskirche
Am heutigen „Tag des offenen Denkmals“ werden Gebäude, die unter Denkmalsschutz stehen, für Besucher und Besucherinnen offengehalten. Dieser Tag hat in jedem Jahr auch ein bestimmtes Motto. Es lautet in diesem Jahr: „Sein und Schein“. Damit werden wir aufgefordert, an und in Bauwerken Täuschungen zu entdecken. „Der Schein trügt“, sagt man. Oder: „Da ist mehr Schein als Sein.“ So finden sich an manchen Fassaden alter Gebäude aufgemalte Fenster, die von Ferne betrachtet täuschend echt aussehen. Oder: In Kirchen sind Decken so ausgemalt, dass man meint, geradezu in den Himmel zu blicken.
Diesen Gottesdienst hat die Geschichtswerkstatt an der Kreuzeskirche vorbereitet. Wir haben uns gefragt: Wo finden wir an oder in der Kreuzeskirche solche Täuschungen? Wo hat sie mehr Schein als Sein? Wo trügt bei ihr der Schein? Zunächst ist uns aufgefallen: Sieht man die Kirche von außen an, dann erscheint sie wie ein Gebäude aus dem Mittelalter, wie aus einer Epoche, die sechshundert oder siebenhundert Jahre zurückliegt. Tatsächlich ist die Kreuzeskirche erst vor rund 120 Jahren erbaut worden, also in einer Zeit, als hier auch Bergwerke und Stahlindustrie entstanden. Die Erbauer der Kirche nahmen aber einen mittelalterlichen Baustil, die Gotik, zum Vorbild.
Betreten wir sie dann, so finden wir keine Innengestaltung vor, wie wir sie für eine mittelalterliche Kirche erwarten würden. Da ist kein langgestreckter Raum mit einem Hochaltar am Ende, wie es für eine mittelalterliche Kirche üblich ist, die ganz auf die Feier der Messe ausgerichtet ist. Da gibt es auch keine Nebenaltäre in den Seiten, keine Heiligenbilder und keine Marienstatuen. Alles konzentriert sich dagegen auf die Predigtkanzel, die von allen Plätzen zu sehen ist. Im Zentrum steht damit Gottes Wort, wie es der reformatorischen Tradition und einer evangelischen Kirche entspricht. Die Gemeinde versammelt sich um die Kanzel, und das heißt dann eben um Gottes Wort.
Dann fiel uns aber noch etwas anderes auf: Menschen, die diese Kirche besuchen, meinen, zwei Orgeln in ihr festzustellen. Tatsächlich sieht es von unten betrachtet so aus, als verfüge die Kirche über zwei funktionierende Orgeln. In Wirklichkeit ist aber von der alten Orgel nur noch der Prospekt, das äußere Erscheinungsbild übriggeblieben. Ihr Inneres existiert nicht mehr. So gesehen trügt der Schein. Dagegen aber funktioniert die neuere Orgel aus Holz, und sie funktioniert gut, wie wir gehört haben.
Die Größe täuscht
Zu dem Thema „Sein und Schein“ kam uns noch etwas anderes in den Sinn. Es hängt mit der Größe dieses Gebäudes zusammen. Die Gemeindeleitung gab damals dem Architekten den Auftrag, eine Kirche mit 1100 Sitzplätzen zu bauen. „1100 Sitzplätze“ hört sich größenwahnsinnig an. Aber die Gemeinde wuchs im Zuge der Industrialisierung und der Zuwanderung rasant – und zwar innerhalb weniger Jahre. Dies änderte sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Bau der Kirche auch nicht. 1926 hatte die Gemeinde Marxloh über 16.0000 Mitglieder. Dazu gehörten über 300 Konfirmandinnen und Konfirmanden. 430 Taufen fanden 1926 statt, demgegenüber nur 147 Beerdigungen. Der Höhepunkt der Gemeindegliederzahl wurde 1932 erreicht. Auf 18.800 Menschen war die Marxloher Gemeinde angewachsen. So steht es jedenfalls in einer Statistik der Festschrift von 1980.
Die Größe der Kreuzeskirche mit über 1000 Sitzplätzen entsprach einer an Zahl großen Gemeinde. Dabei wird man auch berücksichtigen müssen, dass damals durchschnittlich mehr Menschen aus der Gemeinde am Gottesdienst teilnahmen. Die Lage hat sich aber in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Heute gehören noch rund 5600 Menschen zur Bonhoeffer Gemeinde Marxloh-Obermarxloh. Die Prognosen für die nächsten Jahre gehen davon aus, dass die Zahl weiter abnimmt.
Wenn Besucherinnen und Besucher die Kreuzeskirche besichtigen, fragen sie oft, wie viele Menschen sonntags zum Gottesdienst zusammenkommen. Wahrscheinlich würden sie nicht so oft danach fragen, wenn es sich hier um einen kleinen Kirchraum handeln würde. Sicherlich sind viele Sitzbänke in den Seiten und auf der Orgelempore inzwischen entfernt worden. Aber noch immer können auf den verbliebenen Bänken mehrere hundert Menschen Platz nehmen. Noch immer spiegelt der große Raum eine zahlenmäßig große Gemeinde wieder, wie es sie vor hundert oder neunzig Jahren gab.
Indem der Raum immer so geblieben ist, wie er von Anfang an war, macht er vor, es wäre auch seine Gemeinde so geblieben, wie sie einmal war. Zumindest drückt er die damalige Erwartung aus, dass die zahlenmäßige Größe der Gemeinde dauerhaft Bestand haben wird. Doch das war eine Illusion. Jetzt erweckt der große Raum mit den vielen Bankreihen einen falschen Eindruck vom realen Zustand unserer Gemeinde. Was wir mit dieser großen Kirche vor Augen haben, ist vergangene Größe, der heutzutage viele nachtrauern.
Auf Größe kommt es nicht an
Mit einer großen Kirche verbindet sich noch eine andere Wahrnehmung. Mit Größe verbinden wir auch Bedeutung und Wichtigkeit. Je größer die Kirche, umso gewichtiger und bedeutender scheint sie zu sein. Je größer die Gemeinde ist, desto mehr darf sie sich als wichtiger und bedeutender wahrnehmen. Steigt die Zahl der Teilnehmenden an einem Gottesdienst, dann bekommt auch er auch mehr Bedeutung und mehr Gewicht. Dann macht er sogar mehr Sinn. Die Frage ist aber, ob es sich tatsächlich so verhält und diese Wahrnehmung nicht auch eine Täuschung ist.
Uns ist es eine Zusage Jesu in den Sinn gekommen. Sie wird gerne zitiert, wenn nur eine geringe Anzahl von Gemeindegliedern zusammenkommt:
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“
Das wird oft mehr als eine Art Trost verstanden. Wir sind zwar nicht viele, wir wäre lieber viel mehr, das ist total schade, aber Jesus hat immerhin zugesagt, jetzt auch da zu sein. Damit können wir uns jetzt trösten. Das klingt dann so, als hätte Jesus eigentlich gesagt: „Seid nicht traurig, dass ihr so wenige seid. Ich habe Zeit und Lust, auch zu kommen. Dann sind wir zumindest einer mehr.“
Was Jesus zusagt, macht aber im Gegenteil deutlich. dass es auf die Größe gar nicht ankommt.
Worauf kommt es dann an?
Zunächst einmal offensichtlich darauf, dass sich hier Menschen im Namen Jesu treffen. Jeder Gottesdienst, den wir feiern, wird mit den Worten eröffnet: „Im Namen des Vater und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ Aber reicht das schon, dass dies gesagt wird? Sind die Menschen, die zusammengekommen sind, damit bereits eine Versammlung im Namen Jesu?
Um das zu beantworten, müssen wir auch hören, was Jesus vorangehend ausführt. Zuvor gibt er nämlich Anweisungen, wie man mit sündigen Menschen in der Gemeinde umgehen soll. Genauer gesagt: wie man sich um die Umkehr von Menschen bemühen soll, die in die Irre gehen. Dabei zielt alles auf Vergebung und auf die Rettung des Verirrten, also darauf, dass der sündige Mitchrist nicht fallen gelassen wird. Die Gemeinde soll sich also so verhalten, wie es auch Jesus getan hat, nämlich die Verlorenen suchen und retten.
Allgemeiner gesagt: Im Namen Jesu zusammen zu sein, geschieht dort, wo sich Menschen in ihrem Denken und Handeln, in ihrer Einstellung und in ihrem Verhalten an ihm ausrichten und orientieren.
Kürzer gesagt: Im Namen Jesu zusammen zu sein, heißt nichts anderes, als ihm nachzufolgen.
Dabei steht nicht die eigene Rettung und Erlösung, das eigene Heil im Vordergrund, sondern das der Anderen. Wo sich Menschen also gemeinsam und praktisch an Jesus orientieren, da ist er gegenwärtig. Indem sie suchen und retten, was verloren ist, in ihrem praktischen Leben, wird er geradezu sichtbar. Es ist also nicht entscheidend, wie viele Menschen zusammenkommen, sondern was sie zusammen tun. Das ist jedenfalls der Maßstab Jesu. Er selbst ist der Maßstab, sein Reden und Handeln, sein Eintreten für Gott und Mensch. Wenn man so will, dient dieser Maßstab dazu, Sein und Schein zu unterscheiden. Er hilft uns, sich nicht von der großen Anzahl beeindrucken oder blenden, aber auch nicht von einer geringen Zahl entmutigen zu lassen.
Natürlich können wir uns nicht so ohne weiteres von anderen, von unseren gewohnten menschlichen Maßstäben, von dem, was in der Welt gilt, freimachen. Aber die bloße Masse macht es nicht.
Niemanden ist in Wahrheit damit geholfen, dass er sich in einer großen Zahl von anderen Menschen wiederfindet. Da mag es noch so unterhaltsam zugehen. Da mag man noch so sehr auf der Höhe der Zeit sein. Da mag man den Leuten noch sehr nach dem Munde reden. Es bleibt alles nur trügerischer Schein, wenn es nicht im Namen Jesu geschieht.
Denn was nützt es einem Menschen, wenn er sich zwar unter tausend Menschen bewegt, aber niemand darunter ist, der ihm hilft, ihn rettet und befreit? Was nützt es den tausend anderen Menschen, die zwar ganz toll finden, so viele zu sein, aber in Wahrheit nicht im Namen Jesu zusammen sind, weil sie es unterlassen, sich an ihm zu orientieren und seine Sache nicht zu ihrer Sache machen? Das ist nur ein Trugbild von christlicher Gemeinde, aber nicht ihr wahres Sein.
„Wo zwei oder drei in meinen Namen versammelt, sind da bin ich mitten unter ihnen.“
Das ist der einzige Maßstab.
Damit ist es auch gleichgültig, wie groß das Gebäude ist, in der eine Gemeinde zusammenkommt. Dass Jesus durch seine Gemeinde sichtbar wird, ist die wahre Attraktion, die sie hat. Amen
Hans-Peter Lauer