ANDACHT ZUM SONNTAG KANTATE (2. MAI 2021)
Singet dem Herrn ein neues Lied,
denn er tut Wunder!
(Psalm 98,1)
Corona, Corona, Corona – ich kann es nicht mehr hören! Schlage ich die Tageszeitung auf: Corona. Schalte ich das Radio ein: Corona. Mache ich den Fernseher an: Corona.
In den Talkshows gibt es kaum ein anderes Thema. Politiker, Infektiologen, Virologen, Epidemiologen, Impfexperten geben sich die Klinke in die Hand. Anlässe für ein „ARD Extra“ und ein „ZDF spezial“ gibt es immer wieder rund um Corona.
Langsam aber sicher wird jeder und jede zum Experten oder zur Expertin zum Thema. Doch immer, wenn man gerade meint, den Durchblick zu haben, wird alles wieder auf den Kopf gestellt. Wieder neue Mutanten entdeckt, Probleme mit einem Impfstoff aufgetaucht, neue Grenzwerte für Inzidenzen festgelegt. 50 / 100 / 165 / 200. AstraZeneca für unter 65-Jährige, jetzt nur noch für über 60-Jährige. Gut, dass ich so oder so im Korridor liege. Zumindest in Deutschland.
Immer wieder Neues – und doch immer wieder dieselbe Leier. Seit Wochen, seit Monaten, seit über einem Jahr. Ein Virus beherrscht unser Leben. Wir starren darauf, wie das Kaninchen auf die Schlange. Und was ist Thema, wenn wir zufällig mal einer Menschenseele begegnen? Corona, Corona, Corona.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich leugne weder die Existenz dieses Virus, noch verharmlose ich seine Gefährlichkeit. Ich rufe nicht dazu auf, sich den Beschränkungen entgegenzustellen oder sich einer Impfung zu verweigern. Ich sehe sehr klar die wirtschaftlichen Folgen und noch viel deutlicher die psychischen Auswirkungen des Dauer-Lockdowns.
Ich stelle nur fest: Inzwischen lässt Corona einen großen Teil meines Lebens in einem grauen Nebel versinken.
Singet dem Herrn ein neues Lied!
Der erste Vers aus dem 98. Psalm reißt mich aus diesem grauen Nebel heraus. Er fordert mich auf, meine ständigen Klagelieder verstummen zu lassen und Neues zu singen, Neues zu denken, Neues zu sehen. Es klingt fast wie der Weg in eine neue Freiheit: Verlasst die alten Wege, singt nicht immer wieder die alte Leier, brecht auf zu neuen Ufern, singt ein neues Lied!
Doch was kann mich dazu bewegen, dieser Aufforderung zu folgen? Die Begründung, warum ich ein neues Lied anstimmen soll, finde ich in dem kleinen Nebensatz:
…, denn er tut Wunder!
Ich habe ein Lied im Ohr. Es ist nicht neu. „Wunder gibt es immer wieder“, sang Katja Ebstein beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1970 und holte damit einen sensationellen 3. Platz.
„Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn. Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn.“ So der Refrain des alten Schlagers.
Ich bleibe an dem letzten Gedanken hängen: Würde ich ein Wunder sehen, wenn es mir begegnet? Gibt es nicht ganz viele Wunder, die mir tagtäglich begegnen? Muss ich neu lernen, sie zu sehen? Oder muss ich lernen, sie neu zu sehen?
Um ein neues Lied singen zu können, muss ich erst das Sehen neu lernen. Meinen Blick lenken auf die schönen Dinge in meinem Leben, in der Welt. Auf die Wunder, die Gott tut.
Mir gelingt das am besten bei einem Spaziergang. Ich sehe das frische Grün, das überall hervorsprießt, die manchmal winzigen Blüten am Wegesrand. Ich höre die Vögel zwitschern und singen, den Specht klopfen. Es riecht nach Frühling. Andere Spaziergänger lächeln mir zu, grüßen mich. Manche teilen ihre Freude, sagen: „Ist das nicht schön?“
Solche und viele andere kleine Wunder erlebe ich jeden Tag. Und manchmal auch größere. Oft muss ich einfach besser hinschauen, um sie zu entdecken. Allzu weit muss ich dazu gar nicht gehen. Manchmal reicht sogar schon der Blick aus dem Fenster. Oder der Blick in das Gesicht eines lieben Menschen.
Ich bin dankbar. Das Leben ist da – trotz allem und in allem. Mein Herz wird weit. Ich könnte singen vor Freude.
Wer Gottes Wunder in seinem Leben entdeckt, der kann das nicht für sich behalten. Der wird es weitersagen und weitertragen. Eigentlich „weitersingen“. Aber das geht ja im Moment nicht so gut. Zumindest nicht zusammen mit anderen. Aber was hindert mich eigentlich daran, allein für mich ein Lied anzustimmen, eine kleine Melodie zu summen?
Singen kann heilende Wirkung haben, soll sogar das Immunsystem stärken. In jedem Fall stärkt es die Zuversicht und den Glauben.
Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder! Ein Lied der Freude. Ein Lied der Dankbarkeit. Ein Lied der Hoffnung. Amen.
Pfarrerin Birgit Brügge
Retour à l’expéditeur – Empfänger unbekannt
Hans Magnus Enzensberger
Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andere verborgene Organe,
für die Luft und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, dass mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse im Garten auch.