Andacht zum Sonntag Misericordias Domini (18.04.2021)

Die Verantwortung der Schafe

Predigt zum Sonntag Misericordias Domini (18.04.2021)

Von guten und schlechten Hirten

Der heutige Sonntag ist mit dem Bild eines Hirten verbunden. Mit solchen Hirten können in der Bibel die Herrschenden gemeint sein. So beginnt der für diesen Sonntag vorgesehene Predigttext: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! (Ezechiel 34, 1) Gleich am Anfang wird deutlich, dass diese Hirten ihrer Verantwortung für die ihnen anvertraute Herde nicht gerecht werden und ihre Entmachtung unmittelbar bevorsteht.

Das Amt eines Hirten kann dann auch Gott für sein Volk übernehmen, wenn er verheißt: Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. (Ezechiel 34, 15f) Daraus geht zugleich hervor, worin die Verantwortung eines Hirten besteht: die Sorge für das Leben und Wohlergehen der Schafe.

Mit Amt und Aufgaben eines Hirten für sein Volk kann Gott auch einen einzelnen Menschen betrauen. So stellt er in demselben Kapitel bei Ezechiel in Aussicht: Und ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein, und ich, der HERR, will ihr Gott sein, aber mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein; das sage ich, der HERR. (Ezechiel 34, 23f)

Schließlich kann sich auch Jesus als Hirte bezeichnen, etwa in dem Wochenspruch aus dem Johannesevangelium: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.

Lauter Unschuldslämmer?

All dies könnte zu dem bequemen, aber auch falschen Schluss verleiten: Die Verantwortung ist klar verteilt. Sie liegt allein bei den Hirten, seien es die Regierenden oder die Eliten, sei es Gott oder Jesus. Verantwortung haben immer und ausschließlich die da oben oder hat zuletzt jedenfalls immer der da oben. Wir, die Schafe, tragen für nichts und niemanden Verantwortung.

Gegen solche falschen Schlussfolgerungen spricht, was in demselben Kapitel über die Schafe und ihr Verhalten gesagt wird: Aber zu euch, meine Herde, spricht Gott der HERR: Siehe, ich will richten zwischen Schaf und Schaf und Widdern und Böcken. Ist’s euch nicht genug, die beste Weide zu haben, dass ihr die übrige Weide mit Füßen tretet, und klares Wasser zu trinken, dass ihr auch noch hineintretet und es trübe macht, sodass meine Schafe fressen müssen, was ihr mit euren Füßen zertreten habt, und trinken, was ihr mit euren Füßen trübe gemacht habt? (Ezechiel 34, 17-19)

Aus lauter Unschuldslämmern besteht diese Herde nicht. Da geht es alles andere als solidarisch zu. Seine Enttäuschung nicht nur über das habgierige Verhalten der Hirten, sondern auch über die Rücksichtslosigkeit der Schafe verhehlt Gott nicht. Auch von ihnen hat er anderes erwartet. Offenkundig gibt es auch eine Verantwortung der Schafe. Sie besteht nicht, wie von liberaler Seite gerne hervorgehoben wird, in der sogenannten Eigenverantwortung. Eine Eigenverantwortung, die sich im Ergebnis als die Durchsetzung der eigenen Interessen entpuppt.

Verantwortung übernehmen in Krisenzeiten

In dem Wort „Verantwortung“ steckt das Wort „Antwort“. Aus biblischer und christlicher Sicht besteht unsere menschliche Verantwortung schlicht in unserer Antwort auf Gottes Wort, im Hören und Tun seines Wortes. Für Christinnen und Christen verwirklicht sich ihre Verantwortung, indem sie den Ruf Jesu hören und ihm nachfolgen: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir.“

Krisenzeiten sind Bewährungsproben einer solchen Verantwortung. In der jetzigen Corona-Krise geht es nicht in erster Linie darum, sich darüber zu empören, was die da oben alles falsch machen, sondern selbst zu tun, was andere schützt. In der noch viel bedrohlicheren ökologischen Krise ist niemanden damit geholfen, gegenüber der Macht von Konzernen oder der Untätigkeit von Regierungen zu resignieren und sich ohnmächtig zu fühlen. Es kommt vielmehr darauf an, am eigenen Ort und mit den eigenen Möglichkeiten Verantwortung für das Leben auf der Erde zu übernehmen. Es mag leichter zu sein, die Verantwortung allein bei denen da oben oder bei dem da oben zu sehen und zu suchen. Das muss aber nicht so sein. Denn es stimmt schon, was Dietrich Bonhoeffer geschrieben hat und heutzutage oft zitiert wird: „Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“ Amen

Pfarrer Hans-Peter Lauer

Predigt Misericordias Domini 2021