Andacht zum Palmsonntag: Begegnungen im Supermarkt
Seit nun mehr vier Jahren sitzt Roman jeden Tag an derselben Stelle. Von morgens um 9 bis abends um 19 Uhr. Ohne große Pause. Montag bis Samstag. Am Anfang krümmt er sich noch bewusst, damit die anderen Menschen mit ihm mehr Mitleid haben und ihm eine Münze in seinen noch recht schönen Hut hineinwerfen. Nun ist der Hut abgenutzt und bekommt die ersten Löcher und Roman sitzt gekrümmt von harten Jahren auf der Straße.
Neben ihm macht die automatische Tür Tsch und geht auf. Ein kleines Mädchen geht mit ihrer Mutter hinein. Dazu mit etwas Abstand ein Mann. Roman wird von keinem mit einem Blick gewürdigt. Jedes Ignorieren trifft ihn. Auch nach Jahren hinterlässt es kleine Wunden.
Langsam nähert sich eine kleine Gruppe aus Menschen dem Supermarkt. Vorneweg läuft ein Mann mit einer gelben, etwas abgetragenen Jacke. Er lacht mit seinen Freunden, die nun vor der Tür stehen bleiben, und der Anführer geht auf die Tür zu. Als er an Roman fast vorbei ist, bleibt er stehen und sagt zu ihm: „Roman, du hast eine Wolke an Zeugen um dich, lege alles ab, was dich beschwert, und die Sünde, in die du verstrickt bist.“
Martha überlegt nun seit fünf Minuten und kann sich einfach nicht entscheiden. Würde ihr ein kleines Brot reichen oder soll ich wie seit Jahren das große Bauernbrot nehmen? Ihr Hans hatte dies immer besonders geliebt und abends hatten sie dann dicke Scheiben mit ordentlich Butter und Wurst belegt. Hans hatte dann immer gesagt: „Bei einer guten Stulle ist das Brot genauso dick wie der Belag.“ Dabei legte er sich meistens noch eine Scheibe Schinken auf das Brot und prüfte, ob nun das richtige Verhältnis erreicht war. Martha kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Doch ihr Lächeln ist getrübt, denn sie musste Hans vor ein paar Wochen zu Grabe tragen. Eine Träne bahnt sich den Weg über ihre Wange. Der Schmerz und die Trauer kommen in ihr hoch. Dadurch bemerkt sie gar nicht, dass neben ihr ein Mann mit gelber Regenjacke steht. Durch den Schleier aus Tränen erkennt Martha gerade so, dass er unter seinem Arm ein Fladenbrot geklemmt hat. Martha merkt, wie der Mann sanft seine Hand auf ihre Schulter legt und ihr tief in die Augen schaut. Eine kleine Ewigkeit wird alles um die beiden ruhig.
Der einzige Grund mit Mama einkaufen zu gehen, ist, dass man sich eine Süßigkeit aussuchen darf. Leider muss Frederike sich noch gedulden. Mama lässt sie nicht einfach vorgehen. „Du weißt nicht, welche Gefahren da lauern.“ Also muss Frederike in der Obst und Gemüse Abteilung warten. Ihre Mama prüft gerade eine Gurke und legt diese wieder zurück. Jetzt nimmt sie eine andere in die Hand. Frederike ist voller Langweile. „Mama, nimm doch endlich eine Gurke, damit wir weiter können“, sagt sie und versucht, ihre Mama durch den Gang zu schieben. Langsam, aber sicher lässt der Widerstand nach und ihre Mama beginnt sich vom Fleck zu bewegen. Alles muss man selber anschieben, denkt Frederike bei sich. Doch da kommt bereits das nächste Hindernis. Klara, eine Freundin ihrer Mama, steuert direkt auf sie zu. „Hey, Mareike. Schön dich zu sehen“, ruft Klara etwas zu laut. Frederike ist klar, dass sie in den nächsten 10 Minuten hier stehen würden. Deshalb entwickelt sie einen tollkühnen Plan. Sie würde wie ein Spion schon mal vorschleichen. Das würde ihre Mama bestimmt nicht merken. Langsam geht sie Schritt für Schritt zurück. Und wetzt auf einmal los und biegt in den nächsten Gang. Durch die Konservenabteilung links hinein zum Brot biegt sie mit voller Geschwindigkeit ab und wäre fast in eine alte Dame hineingerannt, die mit einem komisch aussehenden Mann mit langem Bart dasteht, der zur alten Oma sagt: „ Ich werde für dich und Hans leiden und mich beschämen lassen. Nimm daraus die Hoffnung, dass du aus deiner Starre entrinnen kannst und wieder beginnst zu laufen und dich dem Kampf mit deiner Trauer stellen kannst.“
Frederike stürmt weiter. Ab durch den nächsten Gang. Rechts um die Kurve.
Puh. Ich kann mich einfach nicht entscheiden. Rot oder weiß. Trocken oder süß. So viele Entscheidungen. Hendrik steht vor dem Weinregal. Leicht schaut er nach links, leicht nach rechts. Überall Wein. Wer soll da nur durchblicken? Wer soll sich denn da nur für das Richtige entscheiden? Ein Schauder durchfährt ihn. Ein paar kleine Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Er wischt sie sich mit seiner linken Hand weg. In der Rechten ist ein Strauß Rosen. Seit Wochen fiebert er dem heutigen Abend entgegen. Alles ist er in seinem Kopf bereits 20mal durchgegangen. Wie Antonia nach der Arbeit in ihre gemeinsame Wohnung kommen würde. Überrascht von Kerzen und selbst gekochtem Essen. Und er mit einem Ring in der Hand. Alles wirkt in seinem Kopf so einfach. Aber den richtigen Wein, den kann er einfach nicht finden, und so steht er ratlos vor dem Regal. Wenn schon die Suche nach dem richtigen Wein so schwer ist, ist er sich denn sicher, dass er den richtigen Menschen für sein Leben gefunden hat. Vielleicht überstürzt er es doch. Vielleicht ist es doch etwas früh. Langsam legt er den Blumenstrauß in das Regal neben sich. Da hört er von rechts eine Stimme. Ein Mann mit knallgelber Jacke steht leicht hinter ihm. „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ „Ich verstehe nicht“, antwortet Hendrik. Der Mann schaut ihn mit einem kleinen Lächeln in die Augen. „Vergiss den richtigen Wein. Wichtig ist doch was anderes. Und das habt ihr. Also geh mit fester Zuversicht jetzt nachhause. Es wird alles gut gehen.“ Und mit diesen Worten nimmt der Mann sich eine Flasche Rotwein und verschwindet im Gewusel des Supermarktes. Und fragend, aber auch ermutigt bleibt Hendrik kurz stehen, bevor er energisch den Blumenstrauß und eine Flasche Rotwein aus dem Regal nimmt. Es ist dieselbe Marke, die der fremde Mann genommen hat.
Jetzt die nächste links. In einem atemberaubenden Tempo läuft Frederike durch die Gänge Richtung Süßwarenabteilung. Durch die Kühltheken natürlich im Slalom. Links an den Pizzen vorbei, rechts am ekeligen Spinat und nun nur noch an der Milch vorbei und dann links und schon steht Frederike in den hohen Regalen voll leckerer Süßigkeiten. Der Mann mit gelber Regenjacke, den sie eben noch beim Brot gesehen hatte, steht im Gang und prüft die einzelnen Leckereien. Wie konnte er nur schneller hier sein als sie. Neugierig geht Frederike auf ihn zu. Traurig schaut er aus und müde, so wie Mama, wenn sie wieder von einer Nachtschicht nach Hause kommt und Frederike leise sein muss. „Warum bist du so traurig?“, fragt Frederike den Mann. Der schreckt aus seinen Gedanken und schaut verwundert das kleine Mädchen an. „Ich habe eine schwere Woche vor mir“, sagt er nach einigem Zögern. „Meine Mama und mein Papa erlauben mir immer eine Süßigkeit, wenn mir etwas Schweres bevorsteht“, antwortet Frederike. „Mein Papa“, antwortet der Mann, „fordert mich auf, auf Freude zu verzichten, und will, dass ich einen schweren Weg gehe.“ Er seufzt. Frederike kann so eine Ungerechtigkeit nicht verstehen. „Du hast ja einen blöden Papa. Meiner würde das nie von mir verlangen. Wirklich gar keine Freude darfst du haben?“ Der Mann lächelt müde. „Es ist zum Besten für viele, dass ich auf meine Freude verzichte und…“, der Mann zögert, „sagen wir, anderen helfe.“ Frederike kratzt sich langsam an der Wange. So richtig versteht sie nicht, was der Mann mit der gelben Regenjacke ihr sagen will. Prüfend schaut sie in das Regal und nimmt ein Ü-Ei heraus. „Ein bisschen Freude für den Weg“, sagt sie und streckt dem Mann das Ü-Ei entgegen. „Dagegen kann niemand etwas haben.“ Der Mann schaut Frederike verdutzt an, Frederike glaubt sogar, für einen Moment eine Träne in seinen Augen zu sehen. Plötzlich hält der Mann beide Hände über sie, hält kurz inne und sagt dann einfach nur „Danke“ zu Frederike. Dann dreht er sich um und verschwindet mit seinem Einkauf. Ein Einkauf bestehend aus einem Rotwein, einem Fladenbrot und einem Ü-Ei.
Die automatische Tür geht mit einem leichten Tssch wieder auf. Roman schaut gespannt nach rechts, wer da aus dem Supermarkt heraustritt. Es ist der Mann mit der gelben Jacke, der ihn freundlich anlächelt. Plötzlich beginnt er in seiner Einkaufstasche zu stöbern und hält Roman schließlich ein Stück abgerissenes Fladenbrot entgegen. „Hier“, sagt der fremde Mann, „nur für dich, damit du wieder Mut empfängst und Zeuge wirst von dem, was bald passieren wird.“ Roman ist gerührt. Selten wird er von Menschen solange beachtet. Den Sinn der Worte versteht er dagegen nicht wirklich. Was für ein Zeuge soll er schon sein und was für einen Mut soll er empfangen. Und trotzdem empfindet er eine tiefe Dankbarkeit und wird ganz nachdenklich. Die Minuten vergehen, immer wieder geht die Tür neben Roman auf und zu. Doch Roman bewegt die Worte des fremden Mannes in seinem Herzen und dann steht er plötzlich auf und geht mit langsamen, aber sicherem Schritt der Gruppe um den Mann mit der gelben Jacke hinterher. Und wenn man ganz genau hinschaut, dann geht Roman auf einmal wieder etwas aufrechter.
Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen.
Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes.
Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.
Hebräerbrief 11,1-2;12,1-3
Amen
Vikar Jonathan Kohl